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Teilstudie 1

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Martin Bemmann - „Beschädigte Vegetation“ und „Sterbende Wälder“. Zur Entstehung eines Umweltproblems in Deutschland, 1893-1970

Dissertation, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2010

Zusammenfassung

Die Dissertation beschäftigt sich mit der Frage, wie und warum sich zwischen den 1890er und den 1970er Jahren die gesellschaftliche Problemsicht auf ein und dasselbe Phänomen – die immissionsbedingten Waldschäden – verändert hat. Galt dieses Phänomen den Zeitgenossen Ende des 19. Jahrhunderts in erster Linie als ein ökonomisch-rechtliches und wissenschaftlich-technisches Problem, das lediglich die unmittelbar Beteiligten betraf, so wandelte sich diese Interpretation bis 1970 derart, dass das gleiche Phänomen nunmehr als Umweltproblem galt, das zumindest potentiell Folgen für die gesamte Gesellschaft haben konnte.

Die Dissertation versteht sich als Beitrag zur Umweltgeschichte, weil sie sich sowohl mit der gesellschaftlichen Verhandlung eines Themas beschäftigt, welches sich auf Veränderungen in der natürlichen Umgebung des Menschen bezieht, als auch mit dessen Behandlung durch die jeweiligen Zeitgenossen. Vertieft geht sie den in der umwelthistorischen Forschung diskutierten Fragen nach der Entstehung von Umweltbewusstsein in modernen Gesellschaften und den Ursachen der so genannten „ökologischen Wende“ um 1970 nach. Des Weiteren trägt die Arbeit zu Diskussionen in der Wissenschafts- und Wissensgeschichte bei, weil sie sich mit der bisher kaum betrachteten Entwicklung der so genannten Rauchschadensforschung befasst sowie mit den Fragen, inwiefern die Geschichte des 20. Jahrhunderts über Verwissenschaftlichungsprozesse erklärt werden kann und ob die Charakterisierung moderner Gesellschaften als Wissensgesellschaften sinnvoll ist.

Ausgehend von einem konstruktivistischen Standpunkt, wonach Probleme nicht unabhängig vom Menschen existieren, sondern Teil einer auf gesellschaftlicher Kommunikation basierenden, immer wieder aufs Neue konstruierten Wirklichkeit sind, wird die Verhandlung des Themas in mehreren so genannten Teilöffentlichkeiten und in der massenmedialen Öffentlichkeit untersucht. Dabei werden unveröffentlichte und veröffentlichte Quellen vielfältiger Art ausgewertet, die von Archivakten über wissenschaftliche Literatur bis hin zu Belletristik und Zeitungsartikel reichen. Eine inhaltliche Eingrenzung findet zum einen hinsichtlich des Untersuchungszeitraumes auf die Jahre zwischen 1893 und 1970 statt und zum anderen hinsichtlich der Konzentration auf fünf zeitlich aufeinander folgende inhaltliche Schwerpunkte, die die Arbeit strukturieren.

Die Dissertation legt dar, wie sich der oben umrissene Wandel der Problemsicht vollzog. Er kann vereinfacht als eine Ausweitung der Maßstäbe beschrieben werden, mit denen das Phänomen der immissionsbedingten Waldschäden betrachtet worden ist: Erstens erweiterte sich das Spektrum der als von Abgas-Immissionen betroffen erscheinenden ‚Dinge’. Schienen den einschlägigen Publikationen und Stellungnahmen zufolge am Beginn des Untersuchungszeitraums vor allem Bäume von Abgas-Immissionen betroffen, so standen ab den 1920er Jahren eher Wälder und in den 1960er Jahren ganze Landschaften im Zentrum. Zweitens erweiterte sich der Kreis der als betroffen erscheinenden Personen. Waren es anfangs in erster Linie Waldbesitzer und Industrielle, die in das Problem involviert schienen, trat seit der Wende zum 20. Jahrhundert die unspezifisch bleibende ‚Allgemeinheit’ hinzu. Während beide Interpretationen in den einschlägigen Beiträgen bis in die 1950er Jahre gleichrangig nebeneinander bestehen blieben – je nachdem, wer sich wo zum Thema äußerte –, dominierte die Idee, die immissionsbedingten Waldschäden beträfen vor allem ‚die Allgemeinheit’, in den 1960er Jahren fast überall. Drittens schließlich erweiterte sich der Kreis der für das Problem verantwortlich gemachten Personen. Galten bis in die 1950er Jahre vor allem ‚die Industrie’ oder ‚die Haushalte’ als Hauptverursacher des Problems – je nach Provenienz der Autoren der einschlägigen Beiträge – wurden in den 1960er Jahren vermehrt ‚die Allgemeinheit’ oder ‚die Gesellschaft’ im Ganzen dafür verantwortlich gemacht, direkt oder indirekt die immissionsbedingten Waldschäden zu verursachen. Sie und nicht Einzelne müssten daher etwas dagegen unternehmen. Betont werden muss aber, dass diese Wandlungsprozesse weder geradlinig noch eindeutig verliefen.

Der Wandel der Problemsicht fand nach den Ergebnissen der Dissertation nicht aufgrund einer ‚objektiv’ messbaren Ausdehnung von Schadflächen oder aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse statt, sondern vielmehr aufgrund sich wandelnder Deutungs- und Argumentationsmuster, mit denen der Wald und dessen Funktionen für die Gesellschaft dargestellt und verhandelt wurden. Diese Veränderungen wiederum sind auf zahlreiche, sich gegenseitig beeinflussende und von einander abhängige sozio-ökonomische, politische und ideologische Entwicklungen im Untersuchungszeitraum zurückzuführen. Dazu zählen beispielsweise der Prozess der Urbanisierung und Motorisierung sowie die zunehmend zur Verfügung stehende Freizeit, die Autarkiepolitik der Nationalsozialisten sowie die Durchsetzung sozialhygienischer Deutungsmuster seit Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die Dissertation legt nahe, dass der Vorschlag, die Geschichte des 20. Jahrhunderts über Verwissenschaftlichungsprozesse zu erklären, mit Vorsicht zu behandeln ist. Zum einen zeigt sie, dass wissenschaftliche Experten, Erkenntnisse, Methoden und Theorien zwar unabdingbar waren, um das Phänomen der immissionsbedingten Waldschäden sichtbar zu machen. Auf den Wandel von deren Interpretation hin zu einem gesellschaftsrelevanten Umweltproblem hatten sie nur wenig Einfluss und ‚die Wissenschaft’ kann in diesem Bereich nicht als treibende Kraft gesellschaftlichen Wandels gelten. Zum anderen deuten verschiedene, in der Dissertation herausgearbeitete Punkte darauf hin, dass die Verwissenschaftlichung der Behandlung des Phänomens bei weitem nicht so weit fortschritt, wie es das viel diskutierte Konzept der Wissensgesellschaft glauben macht.

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erstellt von admin zuletzt verändert: 21.01.2012 14:43

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