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Teilstudie 2

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Roland Schäfer - "Lamettasyndrom" und "Säuresteppe": Das Waldsterben und die Forstwissenschaften 1979-2007

Volltext der Dissertation

 

Zusammenfassung

In den 1980er Jahren löste die Befürchtung, dass der Wald aufgrund des Eintrags von anthropogenen Luftverunreinigungen wie Schwefeldioxid und Stickstoffoxiden großflächig absterben werde, die bis dato größte Umweltdebatte in der Bundesrepublik Deutschland aus, die bis heute vielfältig nachwirkt. Die ersten Warnungen, dass ein Waldsterben bevorstehe oder bereits stattfinde, kamen aus den Forstwissenschaften. Forstwissenschaftler hatten in der darauf folgenden öffentlichen Debatte eine wichtige Expertenrolle inne, und es entwickelte sich eine großzügig geförderte Waldschadensforschung. Inzwischen steht fest, dass die Prognosen eines baldigen Todes des Waldes nicht eingetreten sind.

Das Vorhaben, den Umgang der Forstwissenschaften mit dem Waldsterben näher zu betrachten, wird schon dadurch erschwert, dass der Begriff „Waldsterben“ nie einheitlich definiert war. Viele Wissenschaftler nutzten das Wort, das schon lange vor den 1980er Jahren im Gebrauch war, anfänglich als Fachbegriff; andere wiederum mieden es. Manche verstanden darunter einen Sukzessionsprozess, der letztlich zu einer Säuresteppe führen werde, andere eine akute Erkrankung des Ökosystems Wald. Zudem wurde „Waldsterben“ im Laufe der Debatte von anderen Begrifflichkeiten wie „neuartige Waldschäden“ oder „Schädigung von Waldökosystemen“ verdrängt. Heute ist umstritten, ob es so etwas wie ein Waldsterben überhaupt gegeben habe, oder ob die Warnungen berechtigt waren.

Angesichts dieser Umstrittenheit und Undefiniertheit des Waldsterbens wird in vorliegender Arbeit ein konstruktivistischer Ansatz gewählt und das Waldsterben als ein „wissenschaftliches Objekt“ betrachtet. Ganz unabhängig davon, ob im realen Wald tatsächlich neue und großflächige Schädigungen aufgetreten sind, war das Waldsterben ein Objekt wissenschaftlicher Aufmerksamkeit – es wurde fotografiert, untersucht und vermessen und stand im Mittelpunkt umfangreicher Forschungsprogramme. Gerade durch die wissenschaftliche Arbeit daran gewann das wissenschaftliche Objekt Waldsterben an Realität. Gleichzeitig wandelten sich die Beschreibungen und damit die Eigenschaften des wissenschaftlichen Objektes.

Als Grundlage für die Untersuchung des forstwissenschaftlichen Waldsterbensdiskurses und der wissenschaftlichen Beschreibungen des Waldsterbens dient in vorliegender Arbeit eine qualitative Inhaltsanalyse von Aufsätzen zum Thema Waldschäden in drei deutschsprachigen forstlichen Fachzeitschriften. Daneben flossen zahlreiche weitere Publikationen und Materialien in die Analyse ein. Da die wissenschaftliche Fachdebatte nicht losgelöst von der öffentlichen Diskussion betrachtet werden kann, wurde zudem die Thematisierung des Waldsterbens und der Waldschadensforschung in den Massenmedien auf der Grundlage von Zeitungsausschnittssammlungen betrachtet. Auch die Behandlung des Waldsterbens in der Politik und Wirken der Forstwissenschaftler in der Politikberatung wurde analysiert. Der Hauptuntersuchungszeitraum vorliegender Arbeit umfasst dabei die Jahre 1979 bis 2007. Die interesseleitende Fragestellung lautete: Wie gingen die Wissenschaftler mit dem Waldsterben um, und wie beschrieben sie es?

Eine quantitative Auswertung zeigt, dass weder der Verlauf der massenmedialen Thematisierung der Waldschäden noch der Verlauf der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit mit dem Verlauf der Waldschäden, wie sie in den bundesweiten Waldzustandsinventuren erhoben werden, korrelieren. Während sich die Kronenverlichtungen und Vergilbungen, die bei den Inventuren gemessen werden, seit 1984 im Durchschnitt kaum verändert haben, erlebte die öffentliche Debatte bereits 1983 ihren Höhepunkt, während Mitte der 1980er Jahre die meisten forstwissenschaftlichen Beiträge erschienen und die Aufmerksamkeit für die Waldschäden anschließend stark absank. Das Ausmaß und die Intensität der Waldsterbensdebatte lässt sich also keineswegs mit der Problemdruckthese erklären, nach der das Ausmaß der objektivierbaren Schäden einfach so groß und drückend geworden sei, dass die Gesellschaft darauf reagieren musste.

Die Entstehung der Waldsterbensdebatte wurde durch vorhergehende Entwicklungen wesentlich beeinflusst, die drei verschiedene forstwissenschaftliche Fachbereiche berührten. Ab Ende des zweiten Weltkriegs entwickelte sich eine moderne Ökosystemforschung, die die Betrachtung von Stoff- und Energieströmen durch die Ökosysteme in den Mittelpunkt stellte. Der Forstwissenschaftler Bernhard Ulrich, der 1979 erstmals vor einem bevorstehenden Waldsterben warnte, leitete seine Prognose aus solchen Stoffhaushalts-Untersuchungen ab. Dem Waldsterben ging ein Tannensterben voraus, für das sich der Münchener Forstbotaniker Peter Schütt als Experte etablierte. Schütt war später neben Ulrich der prominenteste wissenschaftliche Mahner in der Waldsterbensdebatte. Die forstlichen Rauchschadensforscher schließlich hatten immer wieder auf die Gefährdung der Wälder hingewiesen und damit zwar dem Thema Aufmerksamkeit gesichert, ohne allerdings eine öffentliche Debatte auslösen zu können.

Der wissenschaftliche Waldsterbensdiskurs lässt sich für Analysezwecke in drei Phasen aufteilen. In der ersten Phase (1979-1983) warnten zuerst die Forstwissenschaftler Ulrich und Schütt in emotionalen und in drastischen Worten vor einem bevorstehenden bzw. stattfindenden Waldsterben und forderten eine Verbesserung der Luftreinhaltung. Die Massenmedien griffen diese Warnungen rasch auf, und als der Spiegel im November 1981 das Waldsterben auf der Titelseite brachte, erfuhr das Thema seinen Durchbruch auf der öffentlichen Agenda. Die Forstwissenschaften beschäftigten sich zunehmend mit dem Waldsterben, bis es Mitte 1983 in der Wissenschaft als Forschungsgegenstand fest etabliert war. Viele Forstwissenschaftler schlossen sich den dramatischen Warnungen von Schütt und Ulrich an und forderten politische Konsequenzen. Das Waldsterben schien sich immer schneller immer weiter auszubreiten, und die Wissenschaftler beschrieben zahlreiche neuartige und Besorgnis erregende Symptome. Rasch einigten sich die Forscher darauf, dass den Waldschäden ein Stresskomplex mit regional und lokal unterschiedlicher Gewichtung der Ursachen unter entscheidender Mitwirkung von Luftverunreinigungen zugrunde lag. Dieser Stresskomplex diente als ein Grenzkonzept, das die ansonsten durchaus unterschiedlichen und auch kontrovers diskutierten Ansichten über die relevanten Wirkungspfade und Schadstoffe integrierte und somit eine Zusammenarbeit der Wissenschaftler in Forschungsprogrammen sowie die Demonstration von Einigkeit ermöglichte. Im Jahr 1983 lag auch der Höhepunkt der öffentlichen Debatte, und in der Politik wurden effektive Maßnahmen zur Luftreinhaltung beschlossen.

In der zweiten Phase, von 1983/84 bis 1992, setzte eine Normalisierung des Umganges der Forstwissenschaftler mit dem Waldsterben ein. Die Emotionalisierung und Politisierung des Waldsterbens ging deutlich zurück, und die Waldschäden wurden zunehmend primär als wissenschaftliche Fragestellung behandelt. Zudem erwiesen sich zahlreiche der vermeintlichen Waldsterbe-Symptome als Fehldeutungen; als Indikatoren für den Waldzustand verblieben hauptsächlich die Kronenverlichtungen und Blatt-/Nadelvergilbungen. Als neuartig galten nun lediglich noch die rasche Verbreitung und die Intensität der Schäden, so dass das Waldsterben zunehmend zu einem rein quantitativen Phänomen wurde. Dazu trugen die symbolträchtigen jährlichen Waldzustandserhebungen und die Etablierung von Monitoring-Netzen bei.

In der dritten Phase, von 1992 bis 2007, setzte sich der Wandel von der Waldschadensforschung zu einer breit ausdifferenzierten Waldökosystemforschung fort. Gleichzeitig ging die Beschäftigung mit den Waldschäden in der Wissenschaft weiter deutlich zurück. Obwohl in der Öffentlichkeit wie auch in den Forstwissenschaften bis heute höchst unterschiedliche Bewertungen über die Legitimität und Berechtigung der drastischen Warnungen zu Beginn der 1980er Jahre und der Waldsterbensdebatte an sich bestehen, fand in den letzten Jahren keine wissenschaftliche Debatte über die Waldschäden mehr statt; ebenso wenig wurde die Waldsterbensdebatte innerhalb der Forstwissenschaften aufgearbeitet. In einem Handbuch aus dem Jahre 2007, das sich an einem abschließenden Stand des Wissens versuchte, war nun nicht mehr von Waldsterben oder von neuartigen Waldschäden die Rede, sondern von einer Schädigung von Waldökosystemen, die bereits immer dann vorliege, wenn der Eintrag an Luftverunreinigungen über bestimmten Schwellenwerten liege. Damit erschließen sich die Waldschäden nun endgültig nicht mehr über vielfältige Symptome an den Bäumen, sondern primär über die Betrachtung von Grenzwerten und Stoffhaushalten.

Die wissenschaftlichen Prognosen eines baldigen Absterbens der Wälder vom Beginn der 1980er Jahre sind offensichtlich nicht eingetreten – allerdings waren diese immer mit der Einschränkung versehen, dass sie nur für den Fall gelten, dass die Luftreinhaltung nicht verbessert wird. Diese Verbesserung ist durch die politischen Maßnahmen, die aufgrund der Waldsterbensdebatte ergriffen wurden, eingetreten. Wie es dem Wald ohne diese Maßnahmen ergangen wäre, lässt sich nicht sicher sagen.

Ulrich und Schütts frühe Warnungen erklären sich vor dem Hintergrund des Ökosystem-Denkens sowie der Überzeugung, dass die Wissenschaft die Gesellschaft vor erkannten Gefahren zu warnen habe, auch wenn diese noch nicht eindeutig nachweisbar seien. Beide waren offenkundig aufrichtig besorgt um die Zukunft der Wälder und der gesamten Umwelt; ihre Wahrnehmung entsprach damit einer zeitgenössischen Krisenwahrnehmung und dem erstarkten Umweltbewusstsein. Für die anderen Forstwissenschaftler war das Waldsterben-Szenario sehr anschlussfähig, da das Waldsterben als wissenschaftliches Objekt äußerst integrativ angelegt war: Viele Phänomene, die sich im Wald beobachten ließen, konnten als Waldsterben-Symptom gedeutet werden, und das Stresskomplex-Konzept ermöglichte es, unterschiedlichste Hypothesen zu integrieren. Dieser Rahmen ermöglichte es den Forschern, ihre Publikationen ab Mitte der 1980er Jahre wieder stärker an grundlagenorientierten Teilproblemen und wissenschaftlich formulierbaren Fragestellungen auszurichten, wodurch der Wald an sich und der Waldzustand aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwanden.

Nachdem die Massenmedien die Deutung der Waldschäden als dringliches Umweltproblem von den ersten wissenschaftlichen Mahnern übernommen hatten und das Waldsterben Gegenstand einer intensiven öffentlichen Debatte war, konnten die Forstwissenschaften das Waldsterben nicht mehr losgelöst von den politischen und moralischen Implikationen betrachten. Nicht nur das große öffentliche Interesse, auch die große Rahmung des Waldsterbens als gesellschaftlich relevantes Umweltproblem stellte eine Ausnahmesituation für die Forstwissenschaftler dar. Daraus erklärt sich, dass sie heute noch um die Deutung ihrer Rolle in der Waldsterbensdebatte ringen – allerdings nicht in Form einer echten Diskussion, sondern in verstreuten Kommentaren. Während einige Forscher und Kommentatoren in der Waldsterbensdebatte eine umweltpolitische Erfolgsgeschichte sehen, haben für andere die Forstwissenschaftler durch ihr Verhalten in der Waldsterbensdebatte die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft an sich beschädigt. Einige Forstwissenschaftler stilisieren sich als Opfer der Massenmedien und der Politik, was angesichts der expliziten wissenschaftlichen Warnrufe und der Entwicklung der Forstwissenschaften zu einer modernen Ökosystemforschung nicht berechtigt scheint. Kritiker wiederum werfen den Forstwissenschaftlern vor, dass es ihnen hauptsächlich um Forschungsgelder gegangen sei – ein Vorwurf, der sich bei genauerer Betrachtung als haltlos erweist. Die Forstwissenschaftler haben es jedoch versäumt, den Katastrophen-Prognosen zu Beginn der Waldsterbensdebatte einige Jahre später entsprechende Entwarnungen folgen zu lassen und den Waldsterbensdiskurs kritisch zu reflektieren, was einigen der Vorwürfe, die heute gegen sie erhoben werden, die Schärfe hätte nehmen können. Umso notwendiger erscheint eine ernsthafte Aufarbeitung der Waldsterbensdebatte innerhalb der Forstwissenschaften, zu der diese Arbeit einen Beitrag leisten möchte.

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erstellt von admin zuletzt verändert: 08.05.2012 15:26

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